Emotionen – Funktional versus Dysfunktional

Ehrfurcht – Perspektive erweitern

Entspannung und Sicherheit stellen die Grundvoraussetzung für kognitive Flexibilität dar, Ehrfurcht sorgt dafür, dass sie floriert. 

Ehrfurcht gehört gemeinsam mit Dankbarkeit und Liebe zu den sogenannten Selbsttranszendenten Emotionen. Selbsttranszendente Emotionen sind dadurch gekennzeichnet, dass wir unser eigenes Ich als kleiner empfinden und fördern dadurch prosoziales Verhalten (Piff, Dietze, Feinberg, Stancato, & Keltner, 2015; Stellar at al., 2017). 

Es geht hierbei darum, das eigene Ego beiseitezulegen und den Wert im größeren Wohl zu sehen. Es geht um eine offenherzige Gemeinschaft und ein Wir-Gefühl. Ehrfurcht hängt daher wahrscheinlich negativ mit Narzissmus zusammen und fördert die eigene Bescheidenheit und Demut (Stellar at al., 2018). Im Vergleich zu unserem Selbst nehmen wir andere Dinge als größer und bedeutender wahr. Hier zeigt sich die Transzendenz. Dadurch nehmen wir viele „vermeintliche“ Probleme als deutlich kleiner wahr. 

Ebenso senkt ein Gefühl von Ehrfurcht die Neigung zum Grübeln (Tarani, 2017). Eine Studie wies sogar die gehemmte Wirkung der Aktivität der Grübelnetzwerke im Gehirn nach (van Elk, Arciniegas Gomez, van der Zwaag, van Schie, & Sauter, 2019). 

Wenn wir eine Situation von außen betrachten (also dissoziiert statt assoziiert) und dabei gezielt Ehrfurcht aktivieren, sorgt dies dafür, dass wir vor uns liegende Herausforderungen als kleiner empfinden und weniger Selbstzweifel sowie mehr Selbstvertrauen in unsere Fähigkeiten spüren (Le et al., 2019). 

Ehrfurcht erhöht auch die Lebenszufriedenheit, mindert Selbstzweifel, fördert positives zwischenmenschliches Handeln und reduziert aggressives Verhalten (Piff et al., 2015; Yang, Yang, Bao, Liu, & Passmore, 2016).

Ebenso erzeugt Ehrfurcht eine positive Wirkung auf unseren Organismus. Der Smpathikus (Nervenverbund für Anspannung) wird herunterreguliert, der Parasympathikus wird aktiviert (Nervenverbund für Entspannung) und die Entzündungsrate wird gesenkt – noch stärker als bei Freude, Zufriedenheit oder Stolz (Shiota, Neufeld, Yeung, Moser, & Perea, 2011; Stellar et al., 2015).  

Die Forschung hat bislang fünf universelle Auslöser für Ehrfurcht identifiziert (Allen, 2018). Das Akronym Awe-SOMES fasst dies zusammen (awe = englisches Wort für Ehrfurcht):

  • Schönheit (Ästhetik-basierte Ehrfurcht): Beispielsweise Naturspektakel wie Polarlichter, Sternenschnuppenregen oder auch Sonnenaufgänge. 
  • Obskurität (Unverständlichkeit im Sinne von Übernatürlichkeits-basierter Ehrfurcht): Beispielsweise die unerklärliche „Wunderheilung“ von Menschen oder ein nicht zu greifender Trick in einer Zaubershow. 
  • Meisterschaft (Fähigkeits-basierte Ehrfurcht): Diese Form der Ehrfurcht tritt auf, wenn ein Mensch sein Handwerk wahrlich meistert. Beispielsweise im Basketball Michael Jordan, im Tennis Serena Williams, als Wissenschaftler Albert Einstein usw. 
  • Erschaudern (Furcht-basierte Ehrfurcht): Beispiele sind Naturgewalten wie ein Sturm oder ein heftiges Gewitter. Diese Form der Ehrfurcht lehrt uns Demut und Respekt vor Dingen, die mächtiger sind als wir. 
  • Stärken des Charakters (Tugend-basierte Ehrfurcht): Diese Form der Ehrfurcht richtet sich auf die Größe des Charakters einer Person. Tugenden, die häufig diese Form auslösen, sind beispielsweise Weisheit und Wissen, Mut, Menschlichkeit und Gerechtigkeit. 

Der universale psychologische Trigger von Ehrfurcht ist die Kombination aus 1) wir empfinden etwas als „groß“ und 2) wir erleben die Notwendigkeit der Anpassung. Die empfundene Größe bezieht sich nicht zwangsläufig auf die physische Größe, sondern umfasst auch Dimensionen wie Zeit, Raum, sozialer Einfluss oder Komplexität. Dennoch empfinden wir das ehrfurchtserregende Objekt als so groß, dass wir uns selbst als klein empfinden. Hier zeigt sich die Selbsttranszendenz. 

Die Anpassungsnotwendigkeit bedeutet, dass wir unser gedankliches Modell der Welt verändern oder erweitern müssen, damit die neue Erfahrung einen Sinn ergibt. Dies macht Ehrfurcht zur Wissenschaftsemotion schlechthin. 

Die Funktion von Ehrfurcht ist das Öffnen der Wahrnehmung und der inneren Erlebniswelt. Forscher gehen davon aus, dass ein Gefühl von Ehrfurcht die früheren Wissenschaftler motiviert hat, ihre revolutionären Theorien aufzustellen, um die Welt besser zu verstehen (Valdesolo, Shtulman, & Baron, 2017). Ehrfurcht sorgt dafür, dass wir uns für neue Informationen und Möglichkeiten öffnen und kreativer denken (Chrico, Glaveanu, Cipresso, Riva, & Gaggioli, 2018). 

Das Bedürfnis, dass du durch Ehrfurcht erfüllst, ist Perspektiverweiterung im Sinne von innerem Wachstum. Hierdurch wirkt Ehrfurcht entscheidend auf unsere kognitive Flexibilität und lässt diese wachsen. 


Weitere nützliche Unterscheidungsform für Emotionen

Ressourcen-Impact-Matrix für Ehrfurcht

Physiologisch / neuronal

  • Aktiviert den Parasympathikus und erhöht damit die Herzratenvariabilität (Chirico, Cipresso, et al., 2017). 
  • Senkt die Entzündungswerte (Stellar et al., 2015). 
  • Hemmt die Hirnareale in ihrer Aktivität, die typischerweise anspringen, wenn wir über uns selbst nachdenken (auch im Sinne von Grübeln) oder die Gedanken wandern lassen (van Elk at al., 2019). 

Emotional

  • Erhöht die Lebenszufriedenheit und das allgemeine Wohlbefinden (Zhao, Zhang, Xu, He, & Lu, 2019).
  • Mindert Symptome von Depressionen wie Hoffnungslosigkeit (Tarani, 2017). 
  • Kann in Bezug auf zukünftige Herausforderungen Selbstzweifel mindern und Selbstvertrauen stärken (Le et al., 2019). 
  • Fördert die emotionale Erholung und reduziert negative Gefühle nach negativem Feedback (Atamba, 2019). 
  • Puffert auf emotionaler Ebene den negativen Effekt eines empfundenen Verlusts ab (Koh, Tong, & Yuen, 2017). 

Kognitiv  

  • Steigert die Offenheit gegenüber neuen Erfahrungen und Standpunkten (Stancato & Keltner, 2019). 
  • Reduziert die Neigung zum Grübeln (Tarani, 2017). 
  • Steigert die Kreativität und kognitive Flexibilität (Chirico et al., 2018). 
  • Fördert die Neugierde und das Streben nach neuem Wissen (Anderson, Dixson, Monroy, & Keltner, 2019). 
  • Verbindet uns mit dem gegenwärtigen Moment, lässt die subjektive Zeit länger erscheinen und verringert auf diese Art Ungeduld (Rudd, Vohs, & Aaker, 2012). 

Sozial / behavioral

  • Fördert Bescheidenheit sowie Demut und begünstigt auf diese Weise eine balancierte Selbstdarstellung der eigenen Stärken und Schwächen gegenüber anderen (Stellar et al., 2018). 
  • Verringert die Tendenz zu aggressivem Verhalten (Yang et al., 2016). 
  • Fördert prosoziales Handeln und Großzügigkeit (Piff at al., 2015).
  • Steigert den Erfolg beim Lernen (Anderson et al., 2019).  

Definition & Kurzübersicht für Ehrfurcht

Trigger

Empfundene „Größe“ von etwas mit gleichzeitig erlebter Anpassungsnotwendigkeit

Funktion

Öffnen der Wahrnehmung und inneren Erlebniswelt

Bedürfnis

Perspektiverweiterung (inneres Wachstum)

Ehrfurcht hervorrufen

Ehrfurcht kultivierst du optimal in dem du a) deine emotionale Denkgenauigkeit stärkst (d. h. Klarheit über Trigger, Funktion, Bedürfnis; siehe oben) sowie b) deine emotionale Empfindungsgenauigkeit trainierst (d. h. du erlebst und fühlst Ehrfurcht regelmäßig). Nachfolgend vier anwendbare Tipps, um sofort mehr Ehrfurcht zu fühlen:

  • Nimm eine bequeme Sitzposition ein und schließe deine Augen. Stelle dir innerlich die Frage: „Wo bin ich einem Wunder begegnet und habe Ehrfurcht gespürt?“. Nimm alle Gedanken und Empfindungen, die als Antwort hochkommen, bewertungsfrei wahr. Verbinde dich jetzt für ca. 15 Sekunden bewusst mit dem Gefühl der Ehrfurcht in deinem Körper (d. h. mit dem Ort in deinem Körper, der dich am stärksten die Ehrfurcht spüren lässt). Mache dies ein- bis zweimal täglich. 
  • Mache einen „Ehrfurchtsspaziergang“ in der Natur. Wähle gerne eine Umgebung mit physischer Größe / Weite und einem neuen Aspekt. Das Wichtigste bei diesem Spaziergang ist deine innere Haltung. Gehe es mit einem „Anfängergeist“ an. Betrachte die Landschaft während des Spaziergangs mit frischen Augen. Nimm dabei immer wieder auch deinen Atem wahr und verbinde dich dadurch mit dem gegenwärtigen Moment. Spüre den Boden unter deinen Füßen, rieche die frische Luft, fühle möglicherweise den Wind / die Temperatur auf deiner Haut. Richte dann deine Aufmerksamkeit auf die größere Umgebung und die Dinge, die dich „ehrfürchtig“ werde lassen. Ist es das Spiel von Licht und Schatten? Die Weite der Landschaft? Die Größe eines Baumes? Und wahrscheinlich gibt es noch viele weitere Aspekte. Verschiebe deine Aufmerksamkeit von dem Großen auf das Kleine. Die Möglichkeiten hier Ehrfurcht zu spüren sind nahezu unendlich. 
  • Denke an einen Menschen, der dich zutiefst durch seine Fähigkeiten und seine gelebten Tugenden beeindruckt. Das kann eine reale oder auch eine fiktive Person (z. B. aus einem Film) sein. Wähle eine Person aus und stelle sie dir innerlich vor. Sehe jetzt, wie die Person die Fähigkeiten in ihrem Verhalten zeigt. Was lässt dich daran ehrfürchtig werden? Wo nimmst du dieses Gefühl jetzt in deinem Körper wahr? 
  • Videosequenzen oder Bilder eignen sich ebenfalls wunderbar, um Ehrfurcht zu kultivieren. Suche auf YouTube z. B. nach „Yosemite HD“, „Grand Canyon HD“ oder „Aurora Borealis“. Hier findest du eine Vielzahl an geeigneten Videos. Die Nutzung von Virtual Reality (VR) scheint im Vergleich zu „normalen“ 2D-Videos stärker geeignet zu sein, um Ehrfurcht im emotionalen Erleben besonders intensiv zu aktivieren (Chirico, Cipresso, et al., 2017; Chirico, Ferrise, Cordella, & Gaggioli, 2017). 
Weitere nützliche Unterscheidungsform für Emotionen

Kognitive Flexibilität durch Ehrfurcht – Komplementär mit Sicherheit / Entspannung

Die kognitive Flexibilität beschreibt unsere Fähigkeit, unser Verhalten und Gedanken an neue, sich verändernde oder unerwartete Ereignisse anzupassen. Es stellt die Begabung unseres Gehirns dar, flexible Handlungsstrategien zu nutzen, um vorher unbekannte Lösungswege zu finden, wenn Problemsituationen auftreten (Scott, 1962). 

Drei Punkte sind hier entscheidend:

  1. Wachsamkeit: Um so aufmerksamer du durch die Welt gehst, desto besser und schneller verarbeitest du multiple Reize. Vor allem die Nicht-Bewertung scheint eine wichtige Rolle bei der Achtsamkeit zu spielen (Zou, Li, Hofmann, & Liu, 2020). Um so schneller du neue Informationen akzeptierst, desto schneller kannst du dein Denken und Handeln anpassen. 
  2. Anpassungsfähigkeit: Entscheidend ist hier das willentliche Umschalten, um deine Fähigkeiten auf die neue Situation anzupassen. Neue Lösungswege mit Leichtigkeit zu identifizieren, steht hierbei im Mittelpunkt. Die Emotionen Freude sowie Interesse stärken durch ihre Dopaminwirkung diesen Aspekt. Dopamin steht unmittelbar mit deinen Lernprozessen und der Suche nach Neuem in Zusammenhang (Gruber et al., 2014). 
  3. Sicherheit: Sicherheit ist die Grundvoraussetzung für Veränderung. Hier geht es vor allem um die innere Sicherheit, äußere Reize kontrollieren und verändern zu können. Bewerten wir eine Situation als unvorhersehbar, steigt der Stresspegel an, in einer Studie sogar um 68 Prozent (Coates & Herbert, 2008). Außerdem werden die Belohnungsnetzwerke im Gehirn gehemmt und das Alarmzentrum, in Verbindung mit unbewussten Handlungsprogrammen für Angst, im Gehirn aktiviert. Eine Vielzahl an Studien hat gezeigt, die Kombination aus Angst und einem erhöhten Cortisolspiegel (Stresshormon) führt dazu, dass wir konservativer entscheiden und weniger Risiken eingehen (Gambetti & Giusberti, 2012; Kandasamy et al., 2014). 

Im Wesentlichen geht es bei der kognitiven Flexibilität darum, aus einem Gefühl der inneren Sicherheit/Entspannung heraus das Neue zu umarmen. Die innere Sicherheit wird durch die emotionale Super-Ressource Entspannung – wie auch durch Sicherheit selbst – gestärkt, während Ehrfurcht durch die Öffnung der Sinne die Anpassungsfähigkeit steigert. Hierdurch öffnest du dich Neuem und stärkst deine Lernfähigkeit. 

Quelle: Mesource